Samstag, 1. November 2014

Der Steinesammler

Es war einmal ein Mann, der liebte Steine. Überall wo er war, suchte er sich große, schöne Steine aus, schleppte sie oder rollte sie bis zu seinem Auto, erschuf Hebel und andere Konstruktionen, um sie hinein zu hieven und wenn er sie zuhause hatte – in seinem Garten – gestaltete er damit Beete und Teiche und hatte seine wahre Freude an ihnen. Seine Frau pflanzte dann Pflanzen, doch im nächsten Jahr hatte der Steinesammler neue Ideen, brachte neue Steine und das Spiel begann von vorn. Irgendwann verlor die Frau die Lust, immer wieder ein paar Pflanzen zu retten und neue hinzu zu kaufen und gab es auf, die Beete mit Pflanzen zu füllen und so wurden sie mit Unkraut überwuchert, bis man die Steine nicht mehr sah und als der Garten voller Steine war, verlor auch der Steinesammler die Lust an diesem Garten.
Der Steinesammler suchte sich eine neue Herausforderung. Er kaufte ein dreihundert Jahre altes Haus, in dem schon Steine der alten Burg eingebaut waren, klopfte Schächte und baute, alle schönen Steine sammelte er im neuen riesigen Garten, schaffte die Steine des alten Hauses auch herbei, soweit dies noch möglich war und türmte auch sie auf, damit er später, wenn das Haus fertig wäre, den Garten gestalten könne.
Doch dann, ein Zimmer des Hauses war gerade fertig, wurde der Steinesammler schwer krank und nach einem halben Jahr war er gestorben.
Zu seiner Beerdigung sammelte seine Frau Kieselsteine, wusch sie und schrieb den Namen des Steinesammlers darauf.
Jeder Gast durfte sich zum Abschied einen Stein mitnehmen zum Gedenken an den Steinesammler.
Einen großen Stein bemalte die Frau und legte ihn in den Garten des Hospizes, wo der Steinesammler gestorben war.
Und die zwei schönsten Steine des alten Gartens, extra vom Vesuv herbei geschafft, ließ sie von den Söhnen auf das Grab legen. So dass jeder wusste, dass hier der Steinesammler ruht.
Vulkansteine, aus der Tiefe der Erde hervorgeschleuderte Lava, durchs Feuer gegangene Ewigkeit – sie sind nun das, was vom Steinesammler geblieben ist.
Inzwischen sind anderthalb Jahre vergangen, das Haus ist ziemlich fertig, doch die Steine warten noch immer auf eine neue Aufgabe. Wollen sie ein Brunnen werden, oder ein Labyrinth?
Bisher hatte die Frau nicht den Mut und die Kraft, auch nicht die Muße, die Steine zu fragen, was sie eigentlich werden wollten.
Heute nun ist sie durch ein Labyrinth aus Steinen gegangen, ähnlich dem, von dem sie schon lange in ihrem Garten träumt, wurde von einem lachenden Stein gefunden, hat ein Steinritual mitgemacht, elf weitere Steine kennengelernt und durch einen sprechenden Stein mit einem Mund gelernt, dass jeder Stein ein Gesicht hat und sprechen kann. Als ihr Stein am Ende des Rituals zu ihr zurückkehrte, hörte sie sein schallendes Lachen und sah seinen fröhlichen Mund. In diesem Moment hat die Frau gewusst, was zu tun ist: sie vertraut darauf, dass der lachende Stein ihr den Weg weisen wird, den Weg in ein neues Leben voller Lachen und voller neuer und alter Steine.

An Allerheiligen geschrieben, in Gedenken an meinen lieben Mann, den Steinesammler, gestorben mit 49 Jahren und 11 Tagen, am 5.2.2013
  

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