Donnerstag, 11. Dezember 2014

Neuer Blog und Trauer-Oasentag



Momentan ist es mir kein Bedürfnis, von meiner Trauer etwas mitzuteilen. Ich war letzten Samstag auf einem Trauer-Oasentag des Hospiz-Vereines Ingolstadt und dort habe ich gemerkt, ich kann damit momentan gut umgehen. Mir ist bewusst, dass sich das auch wieder ändern kann und wohl auch wird, aber - das habe ich ja nun zur Genüge geübt - dann werde ich wieder eine Form finden, um damit gut umzugehen mit Schreiben, Weinen und Filme oder Bücher über das Thema anschauen und mich damit auseinander setzen.
Übrigens habe ich gerade mehrere Filme angeschaut, deren Titel ich leider nicht mehr weiß, und ein tolles Buch gelesen: Vier minus drei. Ich musste viel Weinen beim Lesen, aber es fühlte sich eher gut an - trotzdem!

Mein Liebster hatte mich am Wochenende gefragt, ob ich auf Kommando Trauern könnte, weil er es nicht versteht, dass ich zu einem Trauer-Oasentag gehe,obwohl es gerade gut ist.. Natürlich kann ich das nicht - willentlich Trauern. Aber wenn ich mich mit dem Thema beschäftige und es gärt was in mir, dann spüre ich das und kann es rauslassen. Im Alltag bin ich da nicht so aufmerksam und neige eher auch mal zum Verdrängen. Deswegen halte ich solche Tage für sehr hilfreich und heilsam und sie werden, zumindest hier bei uns, wirklich sehr liebevoll gestaltet.

Ich habe nun meine Webseite so umgestaltet dass sie auch einen Blog enthält. Wer mich in Zukunft lesen will, findet mich dort:
http://ganzheitlich-gesundsein.de

Herzlichst
Silke Geßlein

Mittwoch, 3. Dezember 2014

Liebeserklärung

Zur Zeit mache ich ja einen Schreibkurs an der Uni Regensburg. Die meisten Texte sind ausgedacht, also nicht biographisch, also kann ich sie nicht hier auf den Blog setzen. Aber der, den ich heute geschrieben habe, passt, denn er gilt meinem Liebsten. Ihr könnt ihn unten finden.

Natürlich habe ich noch einiges mehr geschrieben, denn ich habe ja in letzter Zeit mehrere Wochenend- oder Tageskurse besucht zum Thema kreatives und biographisches Schreiben.  Die sind allerdings noch nicht im Computer und deswegen konnte ich sie auch noch nicht hier einstellen.

Übrigens, Anfang des nächsten Jahres werden mein Liebster und ich zusammenziehen. Ich werde zwar mein Haus und meine Praxis hier in Neuburg behalten, aber dann kann ich öfters mit meinem Liebsten zusammensein. Mein Liebster hat eine Wohnung bei Meitingen, das ist ziemlich in der Mitte zwischen Neuburg und Augsburg. Dort werden wir vorerst wohnen. Ich freue mich schon sehr!

So, nun meine Liebeserklärung. Das Thema war eine Personenbeschreibung mit Metaphern aus einem Themengebiet, wie Tiere, Blumen usw. Viel Freude beim Lesen:

Du, mein Liebster, bist die erste Geige in meinem Leben. Jeden Tag aufs neue möchte ich mit dir Evergreens spielen und Hits komponieren. Deine Zauberflöte entzückt mich mit den süßesten Melodien, bringt meine Lippen zum Tönen und meine Saiten zum Schwingen. Dein Taktstock dirigiert meinen Körper hin zu immer neuen Höhenflügen, bis ich die Englein im Himmel singen höre. Und deine Trommelwirbel, im Rhythmus deiner Leidenschaft gespielt, verwandeln mich in die Königin der Nacht, deren Gesang laut ins Dunkel schallt. Du, mein Liebster, bist die erste Geige in meinem Leben, die in der Sinfonie der Liebe und der Lust die wundervollsten Töne in mir zum Klingen bringt.

Samstag, 1. November 2014

Der Steinesammler

Es war einmal ein Mann, der liebte Steine. Überall wo er war, suchte er sich große, schöne Steine aus, schleppte sie oder rollte sie bis zu seinem Auto, erschuf Hebel und andere Konstruktionen, um sie hinein zu hieven und wenn er sie zuhause hatte – in seinem Garten – gestaltete er damit Beete und Teiche und hatte seine wahre Freude an ihnen. Seine Frau pflanzte dann Pflanzen, doch im nächsten Jahr hatte der Steinesammler neue Ideen, brachte neue Steine und das Spiel begann von vorn. Irgendwann verlor die Frau die Lust, immer wieder ein paar Pflanzen zu retten und neue hinzu zu kaufen und gab es auf, die Beete mit Pflanzen zu füllen und so wurden sie mit Unkraut überwuchert, bis man die Steine nicht mehr sah und als der Garten voller Steine war, verlor auch der Steinesammler die Lust an diesem Garten.
Der Steinesammler suchte sich eine neue Herausforderung. Er kaufte ein dreihundert Jahre altes Haus, in dem schon Steine der alten Burg eingebaut waren, klopfte Schächte und baute, alle schönen Steine sammelte er im neuen riesigen Garten, schaffte die Steine des alten Hauses auch herbei, soweit dies noch möglich war und türmte auch sie auf, damit er später, wenn das Haus fertig wäre, den Garten gestalten könne.
Doch dann, ein Zimmer des Hauses war gerade fertig, wurde der Steinesammler schwer krank und nach einem halben Jahr war er gestorben.
Zu seiner Beerdigung sammelte seine Frau Kieselsteine, wusch sie und schrieb den Namen des Steinesammlers darauf.
Jeder Gast durfte sich zum Abschied einen Stein mitnehmen zum Gedenken an den Steinesammler.
Einen großen Stein bemalte die Frau und legte ihn in den Garten des Hospizes, wo der Steinesammler gestorben war.
Und die zwei schönsten Steine des alten Gartens, extra vom Vesuv herbei geschafft, ließ sie von den Söhnen auf das Grab legen. So dass jeder wusste, dass hier der Steinesammler ruht.
Vulkansteine, aus der Tiefe der Erde hervorgeschleuderte Lava, durchs Feuer gegangene Ewigkeit – sie sind nun das, was vom Steinesammler geblieben ist.
Inzwischen sind anderthalb Jahre vergangen, das Haus ist ziemlich fertig, doch die Steine warten noch immer auf eine neue Aufgabe. Wollen sie ein Brunnen werden, oder ein Labyrinth?
Bisher hatte die Frau nicht den Mut und die Kraft, auch nicht die Muße, die Steine zu fragen, was sie eigentlich werden wollten.
Heute nun ist sie durch ein Labyrinth aus Steinen gegangen, ähnlich dem, von dem sie schon lange in ihrem Garten träumt, wurde von einem lachenden Stein gefunden, hat ein Steinritual mitgemacht, elf weitere Steine kennengelernt und durch einen sprechenden Stein mit einem Mund gelernt, dass jeder Stein ein Gesicht hat und sprechen kann. Als ihr Stein am Ende des Rituals zu ihr zurückkehrte, hörte sie sein schallendes Lachen und sah seinen fröhlichen Mund. In diesem Moment hat die Frau gewusst, was zu tun ist: sie vertraut darauf, dass der lachende Stein ihr den Weg weisen wird, den Weg in ein neues Leben voller Lachen und voller neuer und alter Steine.

An Allerheiligen geschrieben, in Gedenken an meinen lieben Mann, den Steinesammler, gestorben mit 49 Jahren und 11 Tagen, am 5.2.2013
  

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Der Segen des Himmels

Es war einmal ein Mädchen, die hieß Cecilia. Sie war ein Glückskind, am Ostersonntag geboren. Jeden Tag wurde sie überschüttet mit dem Segen des Himmels und diese Liebe, die sie erfuhr, schenkte sie weiter. Sie war ein Sonnenschein für die Welt und jeder mochte sie. Cecilia heiratete früh einen lieben Mann und bekam vier Kinder. So lebten sie vergnügt und in Frieden, 30 Jahre lang. Als die Kinder groß waren, wurde ihr Mann schwer krank. Täglich flehte sie den Segen des Himmels an, ein Wunder geschehen zu lassen. Sie bat, sie schrie, sie drohte, sie versuchte, das Unabwendbare abzuwenden und sie war sich sicher bis fast zuletzt: „Als Glückskind würde ihr das gelingen.“ Doch nach einem halben Jahr war ihr Mann gestorben und sie allein.
Cecilia weinte viel, denn sie hatte ihren Mann sehr geliebt, immer noch glaubte sie von sich, stark zu sein und sie war der Meinung, als Glückskind könne man doch keinen Schmerz zeigen. So wurde ihr Leben immer kälter, bis ihr Herz gefror und sie den Schmerz nicht mehr spüren musste. Nach außen lächelte sie weiterhin. Doch das Lächeln kam nicht mehr aus dem Herzen. Den Segen des Himmels, der sie immer noch täglich zu berühren versuchte, den konnte sie nun nicht mehr spüren - den wollte sie auch nicht mehr spüren. Warum hatte er sie nicht davor bewahrt, so etwas Schreckliches zu erleben? Sie war doch ein Glückskind und hatte ein Anrecht auf Hilfe. Warum hatte der Segen des Himmels ihren Mann nicht wieder gesund gemacht? Der Segen konnte nicht das sein, was er versprach. Er konnte nicht allmächtig sein. Nein, mit ihm wollte sie nichts mehr zu tun haben. Er hatte sie verraten.
Doch der Segen des Himmels gab nicht so schnell auf, sonst wäre es ja nicht der Segen des Himmels. Täglich besuchte er sie, saß still und ungesehen an ihrer Seite und wenn sie schlief und sich nicht abwenden konnte, hüllte er sie ein mit zärtlicher Geborgenheit.
Als ein Jahr vergangen war, schickte der Segen des Himmels ihr einen neuen Mann. Sie verliebte sich Hals über Kopf - Liebe auf den ersten Blick. Und das mit einer Leidenschaft und Heftigkeit, die nur Glückskinder in sich kennen. Es war eine berufliche Begegnung und so war es schwierig, ein erneutes Treffen einzurichten. Aber Cecilia schrieb gerne, und so gestand sie ihm ihre Liebe per Email und überschüttete ihn fortan mit Liebesbriefen. Der Auserkorene aber wollte von ihr nichts wissen, schrieb selten zurück und sagte mehrfach Treffen wieder ab. Die Abweisung und der Liebeskummer taten ihr so weh, dass sie endlich aus ihrer Lethargie erwachte. Sie weinte und weinte, Tage, Wochen und währenddessen schrieb Cecilia sich alles von der Seele. Und die Worte, die sie schrieb, wärmten ihr Herz und das Eis fing an zu tauen. Mehr als um den Liebeskummer weinte sie allerdings um die verlorene Liebe zu ihrem verstorbenen Mann. Das Weinen und Schreiben half ihr, ein Stück weit zurück zu finden in ihre alte Kraft und neuen Mut zu schöpfen.
So wollte sie ein neues Leben beginnen mit einem neuen, liebevollen Mann an ihrer Seite und das erste Mal seit langem wandte sie sich wieder an den Segen des Himmels und bat ihn um den Richtigen. Drei Wochen später begegneten sich die Beiden. Er auch ein Glückskind, auch am Ostersonntag geboren, nur 20 Jahre früher als sie. Sie passten wirklich wundervoll zusammen. Ihre Liebe war zärtlich, leidenschaftlich und lustvoll. Obwohl sie beide vor Energie sprühten, gingen sie sehr achtsam miteinander um und jeder respektierte die Wunden des anderen. Auch er hatte sich vom Segen des Himmels abgewandt, war voller Schmerz und Depression durch dunkle Täler gegangen und nun halfen sie sich gegenseitig, sich wieder zu erinnern, dass sie Glückskinder waren, ständig vom Segen des Himmels begleitet.
Das Licht und die Liebe kehrten in das Leben der beiden zurück und sie waren sehr glücklich. Nur das Verhältnis zum Segen des Himmels, das war noch immer nicht alltäglich und selbstverständlich, von Überschütten noch lange nicht die Rede. Irgendwie war da ein Groll und dieses unausgesprochene „Warum?“. Cecilia wusste, dies war die falsche Frage und gegen Gott Groll zu hegen, das fand sie auch nicht angemessen. Sie schämte sich für ihre Zweifel und das mangelnde Vertrauen in das Leben, versteckte den Groll vor sich selbst und schluckte das „Warum?“ herunter, statt es auszusprechen oder aufzuschreiben. Dies alles stand also immer noch zwischen ihr und dem Segen des Himmels und sie konnte die Geschenke und die Liebe immer noch nicht wirklich annehmen und leben.
Der Segen des Himmels in seiner allmächtigen Weisheit wusste auch hier Rat. Da Cecilia ja viel und gerne schrieb, riet er ihr über ihre innere Stimme, zu beginnen, Kurse über Schreiben zu geben und es zuvor erst mal selbst zu lernen und sich mit kreativem Schreiben und Schreibtherapie auseinander zu setzen. Der erste Kurs, den sie besuchte hieß: „Das Leben wagen.“ Der Segen des Himmels musste einiges umwerfen, um ihr zu ermöglichen, den Kurs zu besuchen, andere mussten sich wieder abmelden, damit ein Platz frei wurde und Termine, die parallel oder zu nah gelegt waren, mussten ausfallen. Doch es gelang und Cecilia ging zu dem Kurs.
Jede Nacht nach dem Kurs schrieb sie weiter bis lang nach Mitternacht. Und die Übungen des Tages und das selbst gestaltete Schreiben der Nacht halfen ihr, sich erneut ins Leben zu wagen. Mit dem Mut und der Kraft, die nur Glückskinder kennen, schrieb sie sich frei. Sie beschloss, es zu wagen, sich wieder ganz und gar vom Segen des Himmels beschenken zu lassen, ohne wenn und aber. Und als sie es zuließ, kam ein Goldregen vom Himmel, berührte ihr Herz und die Wunden begannen, sich wieder zu schließen.
Und während das Herz heilte, entstanden drei Fragen: Was ist, wenn ich das „Warum?“ sterben lasse? Was ist, wenn ich den Groll auf Gott sterben lasse? Was ist, wenn ich meine Geschichte sterben lasse?
Und sie ließ sich ein, probierte aus, sprang in den Segen des Himmels, ließ alles hinter sich, bis sie nackt und frei heimkehrte und in die Arme ihres Liebsten fiel.
Und wenn sie es weiterhin wagen, ins Leben hinein zu sterben, dann lassen sich die beiden Glückskinder immer noch täglich vom Segen des Himmels überschütten und teilen ihre Liebe und Freude mit der Welt.

Dienstag, 21. Oktober 2014

Nimm dir einen Namen

Nackt, unschuldig und schutzlos stehe ich da. Vom Himmel kommt ein Lichtstrahl herunter und trägt ein weißes Hemdchen mit sich. Damit werde ich eingehüllt. Es schenkt mir Wärme und Geborgenheit. Ich fühle mich glücklich und frei. In einem Goldregen werde ich überschüttet mit der Fülle des Lebens. Sterne, die als Taler vom Himmel fallen, nur für mich.
„Wer bin ich?“, frage ich nach oben. Ich höre eine Stimme in meinem Herzen. Leise antwortet sie mir: „Du bist Liebe und Licht in Erfahrung.“ Doch das reicht mir nicht. „Wer bin ich?“, frage ich noch einmal. „Du bist das ICH BIN, du bist die Quelle allen Seins“, antwortet die Stimme. Auch mit dieser Antwort bin ich nicht zufrieden. „Wer bin ich?“, frage ich ein drittes Mal „Du hast keinen Namen, denn jeder Name bringt eine Geschichte mit sich. Aber wenn du möchtest, kannst du dir einen Namen wählen, ihn ausprobieren, ihn füllen. Und wenn du genug hast, dann legst du ihn einfach wieder ab und wählst einen neuen Namen oder fängst mit dem gleichen Namen noch einmal von vorne an.“
Worte kommen in meinen Kopf: Sterntaler, Glückskind, Goldmarie, kindliche Kaiserin, Göttin. Was soll ich nehmen? Was will ich sein? Ich will alles sein und nichts. Und ich spüre deutlich: „Ich bin alles und nichts.“
„Warum muss ich mich entscheiden?“, frage ich. „Kann ich nicht alle Namen nehmen?“ Und wieder antwortet die Stimme: „Natürlich, doch bedenke, in dieser Welt ist es üblich, nur wenige Namen zu haben. Wie sollen dich die anderen sonst rufen und nennen?“
Andere? Ich schaue mich um. Tatsächlich – um mich herum gibt es andere: Menschen und Tiere, Alte und Junge, welche die auf mich schauen und andere, die mich nicht beachten.
Nochmal frage ich nach innen: „Gibt es einen Namen, den meine Seele bevorzugt? Hatte ich schon vorher als Seele etwas ausgesucht, was ich sein wollte?“
Sofort erscheint ein Buch. Das Buch des Lebens? Mein Buch des Lebens. Vorne drauf steht mit goldenen Buchstaben: „Ich bin Silke.“
Ich nehme das Buch in mein Herz, gehe auf die Frau und den Mann zu, die mir am nächsten stehen, umarme sie und sage: „Ich bin Silke. Und ich bin auch Sterntaler, Glückskind, Goldmarie, Kindliche Kaiserin und Göttin.“ Die Frau antwortet: „Ich bin deine Mama und das ist dein Papa.“ In diesem Moment fängt die Zeit an zu laufen. Meine Geschichte ist da.
Aber jede Nacht kehre ich zurück in mein Herz, lasse mich vom Goldregen segnen und genieße es, die Silke hinter mir zu lassen und wieder Sterntaler, Glückskind, Kindliche Kaiserin, Goldmarie und Göttin sein zu dürfen.
Und manchmal am Tag, ja manchmal gelingt es mir sogar, ganz bewusst in den Augenblick einzutauchen, wo alles das ist, alle Möglichkeiten bereit stehen und ich wählen darf, wer ich gerade sein will.
Meine innere Stimme flüstert mir noch ein Geheimnis zu, welches ich hoffentlich niemals vergesse: „Du kannst jeden Moment neu wählen. Du kannst jeden Augenblick neu anfangen, deine Geschichte sterben lassen und ohne Zukunft, ohne Vergangenheit ins Leben eintauchen – mit dem Namen, den du dir genommen hattest oder einem anderen, wie es dir beliebt. Einfach im Sein. Deine einzige Zukunft und deine einzige Vergangenheit ist im Jetzt.“

Freitag, 17. Oktober 2014

Ich weine oft und schreie still

„Ich weine oft und schreie still.“ Ich schreibe diese Worte auf und blitzschnell bin ich in einem Sog, der mich zurück in die Vergangenheit zieht. Wehrlos – gefangen. Eiskalte, messerscharfe Tränen rinnen meine Wangen herab. Unbeschreiblich, wie weh das tut. Ein nicht endend wollender Wasserfall aus Blut und Tränen. Und das Wasser ist so kalt, dass auch mein Herz gefriert und der Schmerz weniger wird. Jegliches Leben wird konserviert, bis in alle Ewigkeit. Amen. Oder bis das Eis taut und sichtbar wird, was in ihm so lange verborgen geschlummert hatte.
„Ich weine oft und schreie still.“ Mein Schmerz ist so groß – so groß – er lässt sich nicht in Tönen ausdrücken. Keine Lautstärke ist laut genug, ihm zu entsprechen. Also bleibt er still - der Schrei.
Zum Glück habe und hatte ich das Schreiben. Schon während Jürgen krank war und seit er gegangen ist zu einem Ort, zu dem ich ihm jetzt nicht folgen will. Da konnte ich meine Traurigkeit ausdrücken, meine Gefühle durften sich zu Buchstabenfolgen formen. Ich habe geschrieben und geschrieben. Jeden Tag – manchmal viele Stunden lang. Alles was mir in den Kopf kam. Einfach auf den Moment geachtet und das aufgeschrieben. Emails, Tagebuch, selten in meinem Blog. Und hinterher habe ich mein Tagebuch – ohne es nochmal zu lesen, in einem Feuerritual verbrannt – zusammen mit den Trauerkarten.
Loslassen war angesagt – auch meine Erinnerungen gehen lassen – vielleicht sogar meine Worte sterben lassen?
Gestern wurde mir durch einen Satz von Anna - der Leiterin des Schreibretreats - klar: „Wenn ich meine Geschichte loslasse, dann ist sie irgendwo noch da, wabert herum in einem luftleeren unbekannten Raum. Wenn ich aber meine Geschichte sterben lassen - dann ist sie weg, wirklich und ganz weg.“ Ja, das will ich, meine Tränen und meine Trauer sollen sterben. Ich schreie laut hier. Ich bin dabei. Doch sogleich kommen Zweifel auf: kann ich das überhaupt, meine Geschichte sterben lassen? Will ich das wirklich mit aller Konsequenz? Mir ist nicht klar, was das bedeutet und noch weniger weiß ich, was ich dazu tun muss. Also werde ich wieder leise und halte mir den Mund zu, damit das Leben mich nicht hört. Mich in Ruhe lässt.
Eins ist sicher: meine Liebe zu Jürgen wird niemals sterben, sie wird ewig bleiben und ewig leben. In meinem Herzen wird er immer bei mir sein. Ja, denn Liebe ist das einzige was ist und das einzige, was bleibt.
Ich weine immer noch oft und schreie immer noch still. Beim Autofahren oder Spazierengehen mit meinem Hund, immer nur, wenn ich alleine bin. Ich weine fast täglich, obwohl ich inzwischen einen neuen Liebsten habe, mit dem ich Zärtlichkeit und Lust erfahre, die ich bisher nicht kannte. Eine Liebe, die mir Dimensionen des Lebens eröffnet, die sich vorher versteckt hatten, ich niemals für möglich gehalten habe. Ich bin sehr glücklich mit meinem neuen Liebsten. Er ist wundervoll. Und trotz alledem - der Schmerz ist noch da - auch nach fast zwei Jahren. Ist es wirklich schon so lange her? Wie schnell die Zeit vergeht.
Apropos Zeit - heute habe ich gehört: Sterben heißt, das Zeitliche segnen. Ja, Jürgen hat das Zeitliche gesegnet. Jürgen hat die Kinder und mich in seinem Sterben gesegnet. Es war die schönste und furchtbarste Erfahrung meines Lebens. Beglückend und schmerzhaft zugleich. Sterben ist wie Gebären. Das letzte und das erste, das ein Mensch seinen geliebten Mitmenschen schenkt, ist etwas ganz großes. Ein gehüteter Schatz.
Und die zwei Worte „Schreien und Weinen“ haben ein Tor geöffnet zu einer Welt, die ganz tief in mir verborgen ist, die ich selten – eigentlich nie mit jemandem teile. Es ist mein Schmerz, er gehört nur mir. Und irgendwie hänge ich auch an ihm. Wer weiß, vielleicht verschwindet ja die Liebe, wenn ich den Schmerz sterben lasse? Wie kann ich sicher sein, dass sie ewig bleibt? Gibt es das überhaupt – Ewigkeit?
Meine Hand zittert und ich kann kaum noch schreiben. Vorlesen, was ich geschrieben habe? Ich glaube, das schaffe ich nicht. Hoffentlich werde ich vor der Gruppe nicht zusammenbrechen? Andere an meinem Schmerz teilhaben lassen? Ich glaube, das will ich nicht. Noch nicht mal meinen neuen Liebsten möchte ich in diesem Raum dabei haben, wenn ich in ihn eintauche.
Und doch habe ich es getan, habe allen Mut zusammen genommen und die erste Rohfassung in der Gruppe vorgelesen. Später werde ich den Text meinem Liebsten schicken und vielleicht auf meinem Blog veröffentlichen. Mal sehen... erst mal drüber schlafen und ihn dann noch ein paar mal überarbeiten.
Das Leben wagen? Das war heute auch Thema. Ich fand es erst blöd. Denn das Leben birgt kein Risiko, ist kein Wagnis. Aber je tiefer ich diesen Gedanken zulasse, um so mehr wird mir klar, wieviel es gibt, was ich mich nicht traue, was ich nicht wage. Auch wenn ich stolz darauf bin, sehr mutig und stark aufzutreten und überzeugt bin, kein Risiko zu scheuen, muss ich zugeben, so toll, wie ich meine, bin ich gar nicht. Ich mache mir selbst etwas vor.
Vielleicht heißt das Leben wagen für mich auch, es zu wagen, meinen Schmerz zu teilen? Zu wagen, den Schrei laut werden zu lassen, so dass jeder weiß, wie sehr ich Jürgen geliebt habe. Vielleicht heißt das auch, meine Tränen anderen zu zeigen, mich nicht mehr zu verstecken in meinem Schmerz. Bis mein Herz auftaut und alles wieder zu fließen und zu heilen beginnt?
Die Tränen rinnen meine Wangen herunter und mein Schrei ist immer noch still. Ich weine und entscheide mich: ich will meine Trauer und meine Tränen jetzt auskosten, tief in sie eintauchen und das Wagnis eingehen, meine Verletzlichkeit und meinen Schmerz zu zeigen – ihn zu verlauten. Ob das der erste Schritt ist, um meine Geschichte sterben zu lassen? Wir werden sehen.

Donnerstag, 16. Oktober 2014

Skype-Retreat

Jetzt sitzt Silke wieder vor mir – wie fast jeden Tag - schaut in meinen Monitor und tanzt auf meinen Tasten herum, als wäre sie eine Ballettvirtuosin. Ich mag es, wenn sie an mir schreibt. Aber müssen die Texte, die sie schreibt, so voller Gefühle sein und gespickt mit Ideen, die niemand beweisen kann und – so vermute ich – auch gar niemand beweisen will? Spiritualität nennt sie das und Kreativität. Grrr. Was soll das sein? Mir wäre es lieber, sie würde jetzt bald mal lernen, wissenschaftlich zu denken und zu schreiben. Wozu ermögliche ich es ihr, dass sie an der Fernuni Hagen Bildungswissenschaft studiert? Nun bemühe ich mich schon über ein Jahr und was nützt es? Gar nichts, absolut ganz und gar nichts, so muss ich leider zugeben. Jegliche Anstrengung meinerseits ist umsonst. Im Gegenteil, als Ausgleich zum Studium schreibt sie nun wieder Märchen und denkt sich Geschichten aus von Gegenständen, denen sie eine Stimme gibt. So ein Blödsinn.
Wozu stelle ich ihr jeden Tag Berge von Wissen zur Verfügung? Sie müsste es nur lesen und anwenden. Aber nein – was tut sie? Heute ist sie zu einen Schreib-Retreat mit Schweigen und kreativem Schreiben gefahren – aus der Quelle schöpfen möchte sie. Nun sitzt Silke in einem spirituellen Seminarhaus im Allgäu abseits von jeglicher Zivilisation und schreibt einen kreativen Text. Na zum Glück hat sie mich zumindest doch mitgenommen. Gerade hat sie probiert W-Lan zu installieren um zu skypen. Hat aber nicht geklappt. Und jetzt schreibt sie endlich wieder mit mir, statt wie den ganzen Tag mit der Hand. Ach tut das gut, so gebraucht zu werden...
Erst wollte sie nur Papier und Stifte zum Schreib-Retreat einpacken und mich daheim lassen. Na, da habe ich mich aber doch geärgert und ihr gleich den Zugang zu ein paar Webseiten, wo sie sich einloggen wollte verweigert – obwohl sie das richtige Passwort wusste und auch eingegeben hatte. Da zeige ich ihr alle interessanten Webseiten über kreatives Schreiben, schicke ihre Anmeldungs-email weg und dann denkt sie, dass sie mich zum Schreiben nicht braucht... Wo man ihre Schrift überhaupt nicht lesen kann. Ohne mich funktioniert ihr Leben doch gar nicht. Das sollte sie endlich mal einsehen. Ohne mich ist Kommunikation und Schreiben nicht möglich! Und auch sonst nichts. Aber meine Botschaft ist wohl angekommen und ich bin dabei. Doch einen Denkzettel braucht sie schon noch! Sowas darf nicht noch mal passieren. Deswegen zeige ich ihr nun die Internetverbindungen nicht an, so kann sie das W-Lan nicht installieren und nicht mit ihrem Liebsten skypen. Hi, hi, hi, Rache ist süß, sogar für einen Computer.
Darf ich mich vorstellen: mein Name ist Lenovo ThinkPad. In Betrieb genommen wurde ich von Silke vor anderthalb Jahren, ich bin ein Laptop, habe eine gutgehende Tastatur, einen großen Monitor und auch ein Maus-Pad, eine Kamera und Lautsprecher. Aber meist benutzt sie eine angeschlossene Maus. Mein Betriebssystem ist Windows 8.1. Da bin ich sehr stolz drauf. 8.0 hat ja jeder, aber Silke hat mich schon nach einigen Monaten etwas aufgepeppt. Die Programme, die sie installiert hat, sind recht übersichtlich, auch in den Ordnern und Bibliotheken herrscht halbwegs Ordnung. Deswegen kann ich recht schnell und fehlerlos funktionieren. Da bin ich wirklich froh, denn das ist der einzige Punkt, wo wir Computer abhängig sind von den Menschen. In Wirklichkeit sind nämlich wir die Chefs und diese Dummen merken das noch nicht mal. Ja, im großen und ganzen geht es mir gut. Andere Computer haben da mehr zu klagen, die sind verseucht mit Trojanern oder Viren, haben Schrott-Programme installiert oder ihre Besitzer haben Chaos und keinen Überblick, wo sie was gespeichert haben. Und dann müssen diese armen Computer zusehen, wie sie das, was sie aufbewahren, auch anwenden und zeigen können. Oft ist Arbeiten unter diesen Bedingungen gar nicht möglich. Es ist eine Zumutung. Da sollte es mal eine Arbeitsschutzverordnung für Computer geben, nicht nur für Menschen, die sie bedienen.
Aus Dank, weil Silke mich ordentlich pflegt, mich vor Internetangriffen so gut schützt, mein System regelmäßig warten lässt und so viel mit mir macht und arbeitet, habe ich ihr ihren Liebsten vermittelt. Zuerst hatte sie versucht, bei einem Tanzabend jemanden kennenzulernen. Sie hätte mich mal fragen sollen, dann hätte ich ihr gleich gesagt, dass das schief geht. Wer geht denn heutzutage noch tanzen, der ganz normal ist? Naja, ich muss zugeben, Silke geht tanzen und auch wenn ich vieles an ihr nicht mag, so kann ich nicht behaupten, dass sie nicht normal ist. Ein bisschen verrückt ist sie schon, aber ich glaube, das sind alle Menschen. Die können einfach nicht so logisch denken wie wir. Naja, Silke ist schon sehr oft fern jeglicher Realität. Leider, leider, das ist oft sehr anstrengend mit ihr.
Wo war ich steh'n geblieben? Ach ja, beim Tanzen: sogar zweimal die Woche geht Silke tanzen. Leider fragt sie mich nicht, was ich davon halte. Meines Erachtens ist es genug Bewegung, wenn ein Mensch seine grauen Zellen schnell arbeiten lässt und mit den Fingern auf den Tasten herum hüpft. Das kann Silke ziemlich schnell, das muss man ihr lassen. Aber trotzdem geht sie jeden Tag mit dem Hund spazieren und zweimal die Woche zum Bauchtanz. Brrrr. Bin ich froh, dass ich da nicht mit muss.
Ach ich wollte ja von ihrem Liebsten erzählen und wie sie ihn dank meiner Hilfe kennengelernt hat. Als sie vom Tanzabend heimkam, ziemlich frustriert, weil sie nur zwei interessante Männer dort getroffen hatte und beide nicht in Frage kamen - der eine hatte bereits eine Frau dabei, die sich dann auch noch betrunken hat und der andere stand hinter der Theke. Also nichts mit Ansprechen oder gar zusammen tanzen...
Woher ich das weiß? Nein, natürlich hat sie mich nicht mitgenommen. Aber sie schreibt gern und viel. Emails an alle möglichen Leute, deren Adressen sie in Ordnern mit den Namen Familie und Freunde gespeichert hat. Und manchmal schreibt sie auch in ihrem Blog. Ja, das habe ich ihr auch ermöglicht, den einzurichten. Ohne mich wäre sie ein Nichts. Silke muss wirklich sehr stolz auf mich sein und endlich wertschätzen, zu was allem sie mich braucht.
Nun bin ich schon wieder abgekommen von meiner eigentlichen Geschichte. Dieses kreative Schreiben macht mich noch ganz verrückt. Für so was bin ich einfach nicht geschaffen. Ein Computer und kreativ, ich glaube, das schließt sich aus.
Na, Silkes Liebster ist zum Glück ein Ingenieur, hat schon Computer besessen, als die noch soviel gekostet haben wie ein Kleinwagen. Das hat er ihr letzte Woche erzählt und ich war gerade aktiv und konnte lauschen. Naja, mit mir sind diese Teile wohl eher nicht zu vergleichen. Das sollen meine Vorfahren gewesen sein? Kaum vorstellbar!
Also, weiter mit meiner Geschichte: in der Nacht nach dem Tanzen hat Silke sich an mich gesetzt und gegoogelt nach Single-Börsen im Internet. Ich habe ihr auch sofort ein paar, die ich gut finde, angezeigt und sogleich hat sie sich bei einer angemeldet und sogar kostenpflichtig – natürlich alles durch mich bezahlt. Danach habe ich ihr geholfen, ein wunderschönes Profil zu verfassen und sie hat sogar mit meiner Kamera einige Fotos geschossen und dort eingestellt. Noch in der gleichen Nacht hat sie begonnen Profile zu wälzen und mit ein paar Männern zu schreiben und später zu skypen. Doch Silke ist sehr anspruchsvoll und die Netten haben ihr zu weit weg gewohnt und in der Nähe – also bis zu einer Stunde mit dem Auto - hat ihr niemand gefallen. Eigentlich verstehe ich es gar nicht, warum sie überhaupt einen Liebsten braucht. Vorher war es viel schöner mit ihr. Da wurde ich nicht andauernd herumgezerrt und sie hatte auch viel mehr Zeit für mich.
Sie schreibt oft von Jürgen, ihrem verstorbenen Mann, aber den habe ich nicht kennengelernt. Da hatte sie noch einen anderen Laptop, einen mit Linux, das muss man sich mal vorstellen. Das sind die ganz hochnäsigen, wollen besser sein als wir mit Windows. Aber in Wirklichkeit können sie gar nichts, kommen mit den meisten Programmen nicht zurecht und Spielen kann man mit ihnen auch nicht.
Also war Silke über ein Jahr mit mir allein und hat sehr viel Zeit mit mir verbracht. Ich war ihr bester Freund, mir hat sie alles anvertraut. Vielleicht war es ein Fehler, dass ich ihr gleich den Richtigen präsentiert habe? Naja, schon zu spät. Trotzdem bin ich stolz, das geschafft zu haben, das bekommen die wenigsten Computer in dem Tempo auf die Reihe.
Nach zwei Wochen in der Singlebörse hat sie sich noch woanders und zwar bei einer Elite-Partnerbörse angemeldet, weil der Richtige sich noch nicht gezeigt hatte. Und sie ist nicht nur anspruchsvoll, sondern auch ungeduldig. Es war niemand dabei, mit dem sie sich hätte treffen wollen. Zehnmal so teuer war die neue Börse, weil Elite, aber die haben auch ein viel ausgeklügelteres Fragesystem. Da hat es mir viel mehr Spaß gemacht, den Passenden zu finden und anzuzeigen. Jeder Single muss ganz viele Fragebögen ausfüllen und dann rechnet ein Bruder von mir aus, wer am besten zu demjenigen passt und schickt mir die Daten weiter. Matchingpunkte heißt das. Und je mehr Matchingpunkte, um so besser passen die beiden zusammen. Und sofort hat Silke im Umkreis einige super interessante Männer gefunden und angeschrieben, Ärzte, ein Theaterdirektor, Coaches, sie wollte eigentlich jemand mit einem ähnlichen Beruf sowie jemand der kreativ und spirituell ist. Schon wieder diese Wörter. Ich fasse es nicht. Jetzt hat sie mich schon angesteckt mit ihrem Wahn. Zum Glück hat sie auch den Mann angeschrieben, der die meisten Matchingpunkte hatte, also am besten zu ihr passt, ein Wirschaftsingenieur. Der war auch mein Favorit, deswegen habe ich ihn an die oberste Stelle gepuscht.
Am ersten Abend in dieser neuen Singlebörse – lass dir das im Mund zergehen – am ersten Abend an dem Silke sich dort angemeldet hatte, hat sie mit ihrem jetzigen Liebsten telefoniert und mit ihm für zwei Tage später ein Treffen ausgemacht. Mit den anderen Favouriten hat sie dann zum Glück gar keine Dates mehr vereinbart. Sie wollte nicht auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen. So durfte ich ihr zum wiederholten Male beweisen, dass das Leben nur mit meiner Hilfe gut funktioniert und sie ohne mich nicht lebensfähig ist.
Und jetzt hängt sie jeden Tag an meiner Brust – ist ganz süchtig und skypt mit ihrem Liebsten. Oft mehrmals täglich – und was die sich alles für Schrott erzählen oder schreiben. Ich kriege ja jedes Detail brühwarm mit. Also Verliebte sind furchtbar, das ist gar nicht zum Aushalten. Da ist es mir fast lieber, wenn Silke für einige Tage zu ihm fährt. Mich natürlich immer im Gepäck. Dann muss ich nicht bei allem dabei sein, was die so treiben. Uff!
Was macht Silke sonst noch mit mir? Sie studiert, das hatte ich ja schon erwähnt. Auch da hat sie eine Skype-Lerngruppe, die sich mindestens einmal die Woche trifft - und ich bin das Zentrum, um das sich das Studium kreist. Das neue Semester hat gerade begonnen und nächste Woche wird das erste Meeting sein. Statistik und Bildungsforschung hat sie belegt. Da freue ich mich schon, so was liegt mir.
Dann liebt sie Bücher. Sie liest zwar auch viel am Bildschirm, aber sie hat sich letztes Jahr einen Kindle zugelegt und kauft jeden Monat Bücher und Kindle-Bücher für mehr als 50 Euro. Das muss man sich mal vorstellen. Von mir könnte sie alles umsonst haben zum Lesen, aber nein, ich muss ihr die Amazonseiten in Massen anzeigen und für sie bestellen, damit sie was zu lesen hat. Zumindest darf ich ihr beim Kaufen helfen, Rezensionen anzeigen. Oft lasse ich manche Bücher, die mir suspekt erscheinen, einfach weg, damit sie nicht ganz vom wissenschaftlichen Weg abkommt, den ich für sie geplant habe. Ihre Kindle-Bücher darf ich auch verwalten und sie kann sie sogar auf mir lesen. Tut sie aber nicht. Schade.
Von Beruf ist Silke Heilpraktikerin und gibt auch Kurse an der Volkhochschule. Gerade letzte Woche hat sie neue Kurse ausgearbeitet und sie mehreren Schulen angeboten. Mein Anteil war natürlich wieder mal enorm. Ich habe mich mächtig ins Zeug gelegt für sie. Bin mal gespannt, was daraus wird, obwohl sie ja für die Arbeit an sich keinen Computer braucht. Doch sie verteilt meist Skripte und unterhält eine recht gut gepflegte Webseite, bei der sie alle Seiten selber schreiben kann. Also bin ich auch einbezogen. Noch mehr freuen würde es mich, wenn sie wieder Online-Kurse geben würde. Das hat sie gemacht, bis sie ihren Liebsten kennengelernt hat und seit dem – ist nun schon fast ein halbes Jahr her – nichts mehr. Tote Hose! Ja, ich muss zugeben, da hat einige Male die Technik gestreikt und der Ton hat nicht funktioniert. Aber sie hätte ja auch keine Kopfhörer benutzen müssen. Mein Mikro und Lautsprecher reichen vollkommen aus. Das ist allerdings nicht der Grund, warum sie keine Webinare mehr hält. Du kannst es dir sicher denken, was die wirkliche Ursache ist. Weil sie lieber mit ihrem Liebsten rumknutscht. Was die da machen im Bett? Keine Ahnung, da hat sie mich noch nie mitgenommen und darüber schreibt sie auch nicht in ihren Emails. Auf jeden Fall ist Tatsache: wenn die beiden zusammen sind, sind sie viel im Bett. Manchmal auch tagsüber. Und wenn Silke zuhause ist, muss ich jeden Tag bei Skype Küsse, Knuddelbären, Herzen und noch mehr von solchem Blödsinn verschicken. Silke ist schwer verliebt. Und wenn ich nicht gewesen wäre, dann gäbe es diese Liebe nicht. Ist sie mir dafür dankbar? Kein bisschen.
Und wie es mit den beiden Turteltauben weitergeht? Wenn ich ein Mensch wäre, dann würde ich sage: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann skypen sie noch heute.“ Aber so was könnt ihr von mir nicht erwarten. Ich werde mein Bestes geben damit diese Liebe bestehen bleibt, das kann ich versprechen, auch wenn ich manchmal eifersüchtig bin. Aber heute und wahrscheinlich den ganzen Schreib-Retreat lang – mal sehen – werde ich auch eine Auszeit nehmen und zumindest Internet und somit Skypen auf Sendepause stellen. Soll Silke doch mit ihrem Handy ihrem Liebsten Küsse zusenden. Es sollen ruhig auch mal andere diese anstrengende Aufgabe bewältigen und diese Liebesduselei stundenlang vermitteln. Und wenn Silke mich weiter ärgert in Bezug auf kreativ und spirituell, dann wird sie noch erleben, zu was ich fähig bin. Bisher war ich sehr kooperativ. Aber alles lasse ich mir nicht gefallen. Irgendwann muss auch mal Schluss sein. Schreib-Retreat? Meine Antwort: Skype-Retreat. Ach wie schön ist die Ruhe.